M. Oehler Brunnschweiler: Schweizer Judentümer

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Title
Schweizer Judentümer: Identitätsbilder und Geschichten des Selbst in der Schweizerisch-Jüdischen Presse der 1930er.


Author(s)
Oehler Brunnschweiler, Marlen
Series
Reihe Jüdische Moderne
Published
Köln 2013: Böhlau Verlag
Extent
404 S.
by
Simon Erlanger, Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF), Universität Luzern

Seit ihrer Begründung im Zuge der Emanzipation spiegelte im deutschsprachigen Raum und weit darüber hinaus die reiche jüdische Presselandschaft die innerjüdischen Debatten wieder, die sich in der Folge der neuen Wirklichkeit zwischen Abgrenzung, Akzeptanz, Akkulturation und Assimilation entfalteten. Jüdische Antworten auf die Emanzipation umfassten von der Taufe über Reformbewegung, Neoorthodoxie, Sozialismus bis zum Kulturjudentum alle nur denkbaren Identitätsofferten. In dem von der Presse geschaffenen öffentlichen Raum tobten heftigste innerjüdische Kontroversen, dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass trotz des Eintritts in die europäische Gesellschaft und trotz aller Angleichungsbemühungen die Judenfeindschaft nicht etwa abnahm, sondern seit den 1870er Jahren als «Antisemitismus» in säkularisierter und pseudowissenschaftlicher Gestalt vehement wieder auflebte.

Dies alles schlug sich auch in der jüdischen Presse nieder. In Zeitungen und Zeitschriften wurden Identitätsentwürfe skizziert und diskutiert. Die Presse sollte dabei die Voraussetzungen schaffen für ein neues jüdisches Bewusstsein. Der religiösen Reform verpflichtete Blätter wetteiferten mit orthodoxen, zionistischen, kulturjüdischen und nationaljüdischen Erzeugnissen. «Stärkung nach innen und Vertretung nach aussen» war dabei die Devise auch der jüdischen Presse in der Schweiz, wie sie sich nach 1900 herausbildete. So etwa betonte das vom Zürcher Rabbiner Dr. Martin Littmann seit 1901 herausgegebene Israelitische Wochenblatt (IW) bereits in der ersten Ausgabe Folgendes: «Vor allem will die Zeitung die Juden in der Schweiz anregen, Ideen, die der Gesamtheit dienen können, zur Diskussion zu stellen.» Überraschend ist dann die Fülle dieser Ideen, Ideologien und Identitätsentwürfe für eine Gemeinschaft, die offiziell nie mehr als 20’000 Personen zählte.

In ihrer Dissertation geht nun Marlen Oehler Brunnschweiler diesen Ideen nach und untersucht die Identitätsbilder und – wie sie sagt – die «Geschichten des Selbst» in der schweizerischen jüdischen Presse der 1930er Jahre. Bedingt durch die europäische Krise und die Machtergreifung der Nationalsozialisten stellte sich in diesen Jahren die Frage nach der Zukunft und Verfasstheit jüdischer Existenz in besonders dringlicher, intensiver und auch drastischer Art und Weise, gerade auch in einer Schweiz, die sich als sicherer und neutraler Hort im Zentrum des europäischen Orkans verstand.

Als erste Autorin überhaupt liefert Oehler Brunnschweiler dabei eine Übersicht und eine detaillierte Analyse der schweizerisch-jüdischen Presseerzeugnisse der damaligen Zeit und ihrer Inhalte. Sie konzentriert sich dabei auf die drei grossen jüdischen Blätter der Deutschschweiz, Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz, Jüdische Pressezentrale und Jüdisches Heim. Während das Jüdische Heim explizit zionistisch ausgerichtet war, finden sich in den anderen Titeln eine breite Palette an Meinungen und Identitätsangeboten.

Für ihre Untersuchung verwendet Marlen Oehler Brunnschweiler die Instrumente der Diskursanalyse nach Michel Foucault. Dies ermöglicht das Herauskristallisieren der Topoi und zeigt, wie diese von der äusseren Realität geprägte wurden, aber gleichzeitig auch Wirklichkeit schufen. Zunächst analysiert die Autorin den Kontext. So waren die 1930er Jahre geprägt von der Weltwirtschaftskrise und dem Aufkommen von Faschismus und Nationalsozialismus. Der Antisemitismus nahm nicht nur in Deutschland epidemische Züge an. Auch in anderen europäischen Ländern war die jüdische Existenz zusehends in der Krise, so etwa in Polen, das mit 3,3 Millionen Menschen die grösste jüdische Gemeinde Europas beherbergte. Auch das Schweizer Judentum sah sich nach 1933 zusehends unter Druck und agierte defensiv, wie Oehler Brunnschweiler in ihrer Kontextanalyse klar zeigt. So hätten Fassungslosigkeit, Ohnmacht, Sprachlosigkeit und Agonie die Berichterstattung geprägt, angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten im Nachbarland und der rechtsradikalen Fronten im eigenen Land. Die Zeichen der Zeit seien schwer zu deuten gewesen. Der Glaube an eine liberale, rechtsstaatlich verfasste und pluralistische Schweiz blieb aber meist gross. Zusehends seien die Jüdinnen und Juden unter dem Eindruck der «geistigen Landesverteidigung» gestanden, deren Duktus sie übernommen haben, so Marlen Oehler Brunnschweiler. Generell macht sie vier Identitätsofferten fest, welche damals in der jüdischen Presse verhandelt wurden und die sie im Hauptteil der Arbeit analysiert: 1) die Juden als Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft, 2) die Juden als Kulturgemeinschaft, 3) den Entwurf einer schweizerisch-jüdischen Ethnizität, 4) die Juden als Volksgemeinschaft/Nation, die zum Teil biologistisch definiert wurde.

Mit grosser Akribie und Detailtreue arbeitet die Autorin diese Offerten aus zahlreichen Artikeln, Berichten, Kommentaren, Essays, Leitartikeln und Leserbriefen heraus und macht dadurch die Vielfalt der jüdischen Identitätsbilder in der Schweiz der 1930er Jahre sichtbar. Von sogenannt hybriden Identitätsräumen und der Schaffung einer eigenen schweizerisch-jüdischen Identität über religiöse und kulturelle Identifikationen bis hin zu nationaljüdischen und zionistischen Entwürfen ist alles da. Es entsteht das Bild eines unglaublich reichen inneren Diskurses in einer ideell breit aufgestellten Presselandschaft, bei gleichzeitiger Machtlosigkeit nach aussen. Die von der Autorin im Untersuchungszeitraum eruierten und rekonstruierten Entwürfe jüdischer Identitätsofferten bilden eine regelrechte «Ansammlung von Judentümern». Es ergibt sich so ein buntes Bild von höchster Lebendigkeit trotz widrigster Zeitumstände.

Während die Erkenntnis von jüdischer Vielfalt nicht neu ist, so ist es das grosse Verdienst der Autorin, die jüdische Presse der 1930er Jahre erstmals systematisch durchforscht, diese Quelle allgemein zugänglich gemacht und in archäologischer Manier die Autoren, Inhalte, Haltungen, Debatten und Kontroversen der damaligen Zeit in Erinnerung gebracht zu haben. Damit erfüllt die Autorin ein Forschungsdesiderat. Die schwierige Epoche der Geschichte der Schweizer Juden wird durch die vorliegende Arbeit anschaulich. Marlen Oehler Brunnschweilers Studie bildet so eine äusserst wertvolle Grundlage zum Verständnis des Schweizer Judentums und seiner Institutionen in den 1930er Jahren, aber auch noch lange danach, wirkten doch viele der von Oehler Brunnschweiler wiederentdeckten Autoren und Protagonisten für Jahrzehnte in der jüdischen und oft auch in der nichtjüdischen Öffentlichkeit.

Zitierweise:
Simon Erlanger: Marlen Oehler Brunnschweiler: Schweizer Judentümer: Identitätsbilder und Geschichten des Selbst in der Schweizerisch-Jüdischen Presse der 1930er Jahre, Köln / Weimar / Berlin: Böhlau, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 200-202.

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Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 200-202.

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